Titel
Die Politik der Gabe. Handlungsmuster und Legitimationsstrategien der politischen Elite der frühen spanischen Restaurationszeit (1876-1902)


Autor(en)
García Schmidt, Armando
Reihe
Forschungen zu Spanien 22
Erschienen
Anzahl Seiten
202 S.
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Oliver Schulz, Düsseldorf

Der Autor befasst sich mit der in der deutschen Wissenschaftslandschaft unterrepräsentierten Geschichte Spaniens und untersucht den Lokalismus im spanischen Parlament der Restaurationszeit. Er stellt die Frage nach den Handlungsmustern und Legitimationsstrategien der Parlamentarier. In der Restaurationszeit (1874-1923), die durch die liberal-konservative Ideenwelt des späten 19. Jahrhunderts gekennzeichnet war, verdeckte das parlamentarische System eine Wirklichkeit, die der aufgeklärten Moderne nicht entsprach. Regierungswechsel infolge gezielter Wahlmanipulationen, ein erheblicher Reformstau in Gesellschaft und Wirtschaft und eine vormoderne Agrarverfassung mit traditionellen Besitzverhältnissen waren hierfür charakteristisch. Der Verfasser zeigt auf, wie ein „stiller Pakt zwischen Neuem und Altem“ dafür sorgte, dass politische Macht zwar von einem neuem rechtlichen Rahmen abgesteckt wurde, zugleich aber dominierende gesellschaftliche Gruppen in ihren Interessen unangetastet blieben und überkommene gesellschaftliche Wertvorstellungen weiterhin dominierten. Die Macht der vorherrschenden gesellschaftlichen Gruppen war vor allem regional und lokal begründet infolge einer sozioökonomischen Vorrangstellung und hierarchisch aufgebauter sozialer Beziehungen. Die größtenteils ländliche Gesellschaft Spaniens spiegelte sich in der kleinräumigen Struktur dieser Machtsphären wider mit ihrer Ausrichtung an den Interessen der Familie und der Dorfgemeinschaft.

Als wesentliche Neuerung führt der Verfasser den Aspekt der sozialen Organisationsformen der informellen und personenbezogenen Bindungsnetze für die politische Integration und Kommunikation in die Untersuchung ein, die in der bisherigen Forschung vernachlässigt worden waren. Er bezieht sich hier auf das Phänomen des Klientelismus, d.h. den nicht institutionalisierten, aber dauerhaften Ressourcenaustausch zwischen sozial ungleichen Akteuren, der die vertikale Gruppenbildung der Klientel formt. In Spanien umreißt der Begriff des caciquismo alle diese politischen und sozialen Phänomene auf der Grundlage von Klientelstrukturen der spanischen Restaurationszeit. Während die ältere spanische Geschichtswissenschaft die Kritik an diesen Strukturen aus der zeitgenössischen Kritik an der Restaurationszeit übernommen hat, versuchen neuere Ansätze eine Neubewertung über mikrohistorische und akteurszentrierte Zugänge. Die hier besonders interessante Frage nach der politischen Kommunikation zwischen dem Staat und der lokal zersplitterten Gesellschaft wird in der spanischen Geschichtswissenschaft erst seit kurzem behandelt. Die politische Elite hing ab von ihrer Fähigkeit zur Führerschaft eines Klientelverbandes, der den ständigen Kontakt zu den lokalen Gemeinschaften ermöglichte. Die Klientel ist nicht als politische Partei, sondern als eine vertikale und hierarchisch aufgebaute Gruppierung zu verstehen, die als Mittler zwischen den Ansprüchen der zentralen politischen Staatsgewalt und den lokalen Gemeinschaften auftrat. Funktion und Bedeutung der Parlamentarier für diese Vermittlung zwischen Staat und lokalen Einheiten wurden bisher in der Forschung vernachlässigt.

Als Untersuchungszeitraum wählt der Verfasser die von größerer Stabilität gekennzeichnete frühe Restaurationsphase, bei der die Untersuchung der strukturbestimmenden Elemente ermöglichen soll, die Krisenphänomene der bisher bevorzugt behandelten späten Restaurationszeit besser zu verstehen. Die Quellengrundlage der Arbeit besteht aus den bisher kaum benutzten Tagungsberichten der spanischen Cortes. Der Verfasser versucht eine Abgrenzung von der traditionellen Politikgeschichte, indem er einen erweiterten Politikbegriff zugrundelegt, der Systeme von Normen, Werten und Vorstellungen von Politik in einer Gruppe oder die Deutung politischer Wirklichkeiten, Möglichkeiten und Unmöglichkeiten einbezieht.

Das am viktorianischen England ausgerichtete spanische Zweiparteiensystem der Restauration mit seinem vorher abgesprochenen Rotationszyklus sorgte dafür, dass die Etablierung einer staatlichen Zentralgewalt gegen die lokalen Netzwerke und ökonomischen Abhängigkeitsverhältnisse nicht erfolgen konnte. Die Arbeit zeigt, dass die Wahlen in Spanien bloße Akklamation eines zuvor für das Mandat bestimmten Kandidaten waren. Der Verfasser verweist auf die Verzahnung von staatlicher und lokaler Macht. Den caciquismo analysiert der Verfasser unter Verwendung des Begriffs des Klientelismus mit dem zentralen Aspekt der Reziprozität und der Gabe. Der Verfasser nennt zudem die ländliche Prägung Spaniens mit teils hermetisch abgeschlossenen Dörfern mit geschlossenen lokalen Wirtschaftsformen, deren Bevölkerung ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Schutz vor den Eingriffen des Staates und nach Begrenzung äußerer Einflüsse hatte. Wahlen hatten hier einen ausgesprochen kollektiven Charakter, was die Möglichkeit der Wahlmanipulation durch lokale Notabeln erklärt. Zweckrationales Handeln überwog deutlich vor wertrationalem Handeln. Die Kaziken zeichneten sich dadurch aus, dass sie als Phänomen an die Entstehung und weitere Entwicklung des liberalen Staates gebunden waren. Sie verfügten zwar über eigene Ressourcen, konnten ihren Einfluss aber nicht ausschließlich hierüber, sondern vor allem über eigene Beziehungen ausüben, die sich als Verbindungen nach oben in die Politik und nach unten in die Netze lokaler Abhängigkeiten zeigten. Neue Berufe und Akteure mit Spezialwissen wie Rechtsanwälte, Verwaltungsbedienstete oder professionelle Politiker spielten eine besondere Rolle. Der Kazike firmierte als Mittler auf der untersten Ebene, und Faktoren wie Familie oder Verwandtschaft garantierten den Wahlerfolg in der Provinz. Das politische Handeln basierte auf dem patrimonialen und familiären Sinn, den die Politik durch die Eliten erhielt und dessen zentrale Symbole in der Restaurationszeit der Gunsterweis und die Gabe waren.

Im fünften Kapitel untersucht der Verfasser die Struktur und das Handeln der politischen Führungsgruppe an einem regionalen Beispiel. Er wählt hierfür die Parlamentarier aus der zentralspanischen Provinz Soria aus, die im Zeitraum 1876-1902 ein politisches Mandat in Madrid ausübten. Anhand einer quantitativen Analyse, die auch in Schaubildern visualisiert wird, zeigt der Verfasser die Legitimationsstrategien der Abgeordneten auf. Diese verknüpften die eigene Identität mit der der vertretenen Provinz und argumentierten oft mit dem Vorwurf, der Staat erwidere die Vorleistung der jeweiligen Provinz nicht. Das Klientelverhältnis spiegelt sich hier zwischen Staat und Provinz wider, und die Argumentationslinie weist häufige Entlehnungen aus dem Wortfeld „Familie“ und „Verwandtschaft“ auf. Der Verfasser zeigt, wie die Debatten von Partikularinteressen und nicht von Parteiinteressen dominiert wurden und stellt die Frage nach der Relevanz informeller Personenbindungen für den Prozess der politischen Integration des Landes.

In der sehr gut lesbaren Arbeit gefällt der umfangreiche Überblick über die Forschungslage und die dort bestehenden Lücken sowie die ausführliche theoretische Grundlegung mittels des sozialwissenschaftlichen Konzepts des Klientelismus, das an der regionalen Fallstudie in einer Verknüpfung von Politik- und Sozialgeschichte exemplifiziert wird. In diesem Abschnitt ist die Visualisierung in Form von Diagrammen und Schaubildern positiv hervorzuheben. Die Arbeit bietet so mit ihrer regionalen Schwerpunktbildung einen guten Ausgangspunkt für weitere, übergreifende Forschungen auf diesem Gebiet.

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